9. Missverständnisse

Kira erwachte am nächsten Morgen davon, dass Gabriel an ihrem Arm zog. „Maaaamaaaa.... Wach aaaaahaaauf...“ Sie hoffte inständig, dass das alles nur ein Traum wäre, aber viel zu schnell wurde ihr bewusst, dass dies kein Traum war, sondern dass ihr ältester Sohn tatsächlich neben ihrem Bett stand. Die Nacht war viel zu kurz gewesen und sie fühlte sich wie gerädert. „Was ist denn, Gabe?“ 

„Wer ist da im Gästezimmer? Warum ist die Tür zugeschlossen? Und außerdem hab ich Hunger.“ Sie sah ihn lächelnd an „Gabriel, Onkel Paddy schläft in dem Gästezimmer. Und jetzt lass die Mama noch ein bisschen schlafen, ja?“ - „Aber ich hab Hunger“ antwortete er trotzig. „Oh Mann.“ Sie warf einen Blick auf ihren Mann, der seinen Rausch neben ihr ausschlief und nicht mitbekam, dass sein Sohn hungrig war. Sie stöhnte kurz und warf dann die Decke beiseite. „Ist gut, Gabe. Ich gehe nur kurz ins Bad und dann bekommst du dein Frühstück, okay?“

Sie verschwand kurz im Bad, wusch sich das Gesicht und schaute dann auf „Oh Gott, wer bist du denn?“ sprach sie zu ihrem Spiegelbild „du siehst fürchterlich aus.“ Nach einer kurzen Katzenwäsche verließ sie total verschlafen und immer noch im Nachthemd das Bad. 

„Du Mama?“ – „Ja, Gabriel?“ - „Warum ist Onkel Paddy hier?“ - „Weil er wieder hierher ziehen möchte, aber hier noch keine Wohnung hat. Das heißt er bleibt zunächst einmal hier.“ - „Muss ich ihm dann was von meinen Cornflakes abgeben?“ 

Kira wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als jemand anders für sie antwortete.: „Ja, ich hätte gerne etwas von deinen Cornflakes, Gabe.“ Paddy stand, nur mit Shorts bekleidet, im Türrahmen, er war blass im Gesicht und hatte offensichtlich Kopfschmerzen. 

Gabriel saß unschlüssig auf seinem Stuhl, einerseits war er gut erzogen, aber andererseits wollte er seine Cornflakes für sich. Er runzelte angestrengt die Stirn, weil er intensiv überlegte was er antworten könnte. „Das war doch nur ein Witz, mein Großer. Du kannst deine Cornflakes alleine essen.“ Er lächelte ihm zu und legte seine Hand auf Gabriels Schulter. „Du kannst dir ein Brötchen nehmen, wenn du möchtest. Und Aspirin liegen hier auch, hab schon vorgesorgt“ bot Kira ihm grinsend an „Steht alles hier auf dem Tisch, du musst dir nur eine Kaffeetasse holen, wenn du einen Kaffee trinken möchtest.“ 

Er nahm sich eine Tasse und setzte sich Kira gegenüber, zuerst einmal schluckte er die Aspirin. „Oh,“ rief Kira aus „das sehe ich ja jetzt erst. Deine Nase sieht ja schlimm aus. Warte mal, ich sehe mir das mal genauer an. Damit sollten wir vielleicht lieber ins Krankenhaus fahren.“ Sie stellte sich neben ihn und beugte sich zu seiner Nase vor. Mit der einen Hand drückte sie seinen Kopf nach hinten, mit der anderen befühlte sie vorsichtig seine Nase. 

Angelo betrat in diesem Moment die Küche und sah seine Frau halb auf Paddys Schoß sitzen. Ihr nacktes Bein berührte sein ebenfalls nacktes Bein. Sie saß mit dem Rücken zu Angelo, so konnte sie ihn nicht sehen, aber er sah, dass sie dort Gesicht an Gesicht saßen, Paddy musste ihr also direkt in den Ausschnitt gucken können. Und für ihn war es offensichtlich: sie küssten sich. Und dass in Anwesenheit ihrer Kinder. Er spürte heiße Eifersucht, Wut und Tränen in sich aufsteigen, aber seine Kinder saßen in der Küche, da musste er sich beherrschen. Er schluckte seinen Tränen hinunter, drehte sich um und verließ türknallend das Haus. 

„Oh, wer war das denn?“ Kira drehte sich um. Da aber alle ihre Kinder am Tisch saßen, genauso wie ihr Schwager, konnte dies nur Angelo gewesen sein. Oh nein, dachte sie. Hoffentlich ist er jetzt nicht sauer, weil ich mir Paddys Nase angesehen habe. Sie wusste nur zu genau, dass Angelo äußerst schlecht auf Paddy zu sprechen war. Genauer gesagt durfte Paddys Name in diesem Hause nicht einmal erwähnt werden, dann fuhr Angelo schon aus seiner Haut. 

„Wo will Angelo denn hin?“ fragte Paddy unwissend. „Ich weiß es nicht, aber ich habe kein gutes Gefühl bei dieser Sache.“ Sie bewegte sich in Richtung Küchentür „kannst du dich kurz um die Kleinen kümmern? Ich muss ihn suchen.“ Ohne auf eine Antwort zu warten stürmte sie aus der Küche, warf sich flüchtig einen Mantel über, schlüpfte in ihre Latschen und rannte dann ebenfalls aus dem Haus.

 

Angelo saß derweil auf einer Bank im Park. Er weinte bitterliche Tränen der Wut und der Verzweiflung. Warum hat sie mir das angetan? Warum? Ich dachte sie liebt mich? Und dann wirft sie sich bei der ersten Gelegenheit meinem Bruder an den Hals. Das tut so weh. Trotz seiner inneren Hitze, fror er erbärmlich. Er war nur mit T-Shirt und Boxershorts bekleidet und da erst April war, war es doch noch ziemlich kalt. Aber er wollte auf keinen Fall zurück zu Kira und Paddy zurück, so entschloss er sich zu Patricia zu gehen. 

Der Weg gestaltete sich als länger als er erwartet hatte, doch das war ihm egal. Auch die verwirrten Blicke der anderen Passanten bemerkte er nicht. So hatte er genug Zeit, um sich über seine vermeintlich kaputte Ehe klar zu werden. Ich gehe nicht zu Kira zurück, nahm er sich vor. Soll sie doch mit meinem Bruder glücklich werden. Dies werde ich ihr niemals verzeihen! Niemals! Seine Gedanken quälten ihn und ließen ihn ungerecht werden. Er wollte Kira nicht einmal mehr die Möglichkeit geben sich zu rechtfertigen. Dann war es soweit und er stand endlich vor Patricias Tür und klingelte. 

Es dauerte eine kleine Ewigkeit und er musste mehrmals klingeln, bis schließlich die Tür geöffnet wurde. Patricia stand vor ihm „Oh Angelo, wie siehst du denn aus? Was ist mit dir passiert?“ - „Kann ich reinkommen, Trisha?“ – „Na klar, komm rein. Geh mal ins Bad. Ich besorg dir Klamotten von Denis.“ Sie schob ihn ins Bad und verschwand dann in ihrem Schlafzimmer. 

Angelo setzte sich auf den Toilettendeckel, zog die Beine an den Körper und legte den Kopf auf die Knie. Die Toilette ächzte und knirschte bedenklich, aber das war ihm egal. So saß er, bis Patricia mit den Kleidungsstücken von Denis zurückkam. Wie in Trance zog er die Jogginghose und die passende Jacke über und folgte dann seiner Schwester in die Küche.  

„Schlafen die anderen noch alle?“ – „Ja, sogar Jimmy und Joey liegen unten noch in der Ecke, habe denen Decken gebracht, seitdem wollen die wohl gar nicht mehr aufstehen.“ Sie drückte ihm eine Tasse Tee in die Hand. „Angelo, jetzt erzähl. Du siehst gar nicht gut aus. Was ist passiert?“ 

Er starrte durch die Teetasse hindurch „Bis auf die Tatsache, dass ich einen höllischen Kater habe und mich nur an Bruchstücke des gestrigen Abends erinnern kann, hat mich heute morgen meine Frau mit unserem Bruder betrogen.“ Seine Gesichtszüge verhärteten sich. „So schnell tauscht sie mich aus. Da ist ein einziges Mal mein Ach-so-toller-Bruder Paddy, mit dem schönen Lächeln“ sein Tonfall wurde abfällig „und mit der lustigen und netten Art in meinem Hause, hat meine Frau, nichts besseres zu tun, als vor unseren Kindern mit ihm herumzuknutschen. So, das war’s. Hast du noch Fragen?“ Nun sah er Patricia direkt in die Augen und sie bemerkte seine Verzweiflung, die er hinter diesem Zynismus zu verstecken versuchte. So setzte sie sich neben ihn und legte ihm ihren Arm um die Schultern. „Oh mein Gott, das ist ja schrecklich. Das hätte ich ihr nie zugetraut. Bist du dir sicher?“ 

Er sah sie zornesentbrannt an „Ob ich mir sicher bin?“ Er stand auf und lief ziellos durch die Küche „Du fragst mich ob ich mir sicher bin?“ Er schrie nun fast „Natürlich bin ich mir sicher!!! Ich weiß doch was ich gesehen habe.“ Er lief immer kleinere Kreise. 

„Angelo, setz dich bitte. Hast du Kira denn darauf angesprochen?“ - „Nein, hab ich nicht“ Er fuhr mit den Fingern durch seine offenen Haare und versuchte sie ein wenig zu entwirren. „Dann werde ich sie jetzt anrufen und dann werdet ihr euch hier aussprechen. Keine Widerrede.“ Angelo wollte gerade widersprechen, da klingelte es erneut an der Tür. „Oh Mann, was ist hier heute bloß los? Sonst klingelt es auch nie um diese Uhrzeit.“ 

Angelo setzte sich hin und stützte die Stirn auf seine Hände, er dachte nach. Er dachte darüber nach wie es weitergehen sollte. Patricia hatte ja Recht, aber andererseits hatte er Angst davor, aus Kiras Munde zu hören, dass sie ihn mit Paddy betrogen hatte. Er hob nicht einmal den Kopf als Patricia die Küche betrat. 

„Angelo?“ – „Hm?“ grunzte er. – „Hier ist jemand, der verzweifelt mit dir reden möchte.“ 

Er hob den Kopf und sah Kira neben seiner Schwester stehen. Sie sah zum Fürchten aus, ihr Gesicht war vom Weinen verquollen und ihre braunen Haare standen in alle Richtungen ab. Sie hatte einen schwarzen Mantel an und dazu trug sie gammlige Latschen, aber für ihn war sie in diesem Moment die schönste Frau der Welt. Er kämpfte gegen seinen Impuls an, sie in den Arm zu nehmen. Zu sehr schmerzte ihn der Gedanke an ihren Seitensprung. 

So sah er sie einfach nur an. 

„Ich lass euch dann mal alleine“ Patricia verschwand eilig aus der Küche; Kira ging ein paar Schritte auf ihn zu und setzte sich ihm gegenüber, dort wo bis vor wenigen Minuten noch Patricia gesessen hatte. „Angelo, kannst du mir bitte mal verraten was die Aktion heute morgen hier soll?“ Sie klang verweint, aber in diesem Moment rannte keine Träne ihre Wange hinab. Er sah sie zornig an „ICH soll dir sagen was ich habe? Vielleicht wäre es eher angebracht, dass DU mir etwas erklärst!!!“ - „Aber ich habe doch gar nichts gemacht. Das war doch harmlos! Das hätte in diesem Moment jeder getan!“ Er stand auf „JEDER?“ Er begann wieder seine Kreise durch die Küche zu ziehen und seine Stimme wurde immer lauter „Ich kann mir nicht vorstellen, dass DAS JEDER getan hätte.“ In seiner Erinnerung sah er wieder Kira in ihrem Nachthemd wie sie sich über seinen Bruder beugte. 

„Angelo, bitte. Verhalte dich doch mal wie ein erwachsener Mann. Ich habe lediglich seine Nase angesehen. Die Nase, die du ihm gebrochen hast.“ - „Ja, ja, ja. Nase ansehen nennt man das heutzutage also“ höhnte er. „Ja! Nase ansehen. Was dachtest du denn was wir da machen?“ Sie konnte sich nicht vorstellen, was an dieser Tatsache so schlimm sein sollte. „Geküsst habt ihr euch. Das hab ich doch gesehen.“ Er hatte seine Stimme nicht mehr unter Kontrolle und ballte die Hand zu einer Faust. „Geküsst?“ Sie sah ihn verständnislos an „Das ist doch ein Witz, oder?“ - „Witz?“ wiederholte er sie jetzt ebenfalls „Tut mir leid, nach Witzen ist mir heute nicht zu Mute.“ 

Kira wurde nun bewusst warum er so aus der Haut gefahren war, sie setzte sich nun auf den Stuhl neben ihm. „Angelo“ sie nahm seine Hand „bitte, glaub mir. Niemals in meinem Leben würde ich dich betrügen, dafür liebe ich dich viel zu sehr. Ich habe mir wirklich nur seine Nase angesehen, weil diese total angeschwollen war. Und um besser sehen zu können habe ich mich über ihn gebeugt. Mehr nicht.“ Er ging die Szene in seinem Kopf noch mal durch und kam zu der Erkenntnis, dass ihre Erklärung plausibel klang, es könnte also stimmen, was sie gesagt hatte. 

Kira, die ihren Mann in- und auswendig kannte, wusste, dass er nachdachte und dass sie ihn jetzt nicht dabei stören durfte, so lächelte sie ihn nur an und streichelte die Rückseite seiner Hand. „Kira, ich... es... es tut mir leid. Ich glaube dir.“ Wisperte er nach einigen Minuten. Sie lächelte ihn glücklich an. Er umarmte sie und küsste sie dann sanft auf den Mund. Doch wie bei der Familie Kelly üblich, wurde genau in diesem Moment die Tür aufgerissen. 

„’N Morgen.“ Jimmy stand total verkatert in der Küche, nahm sich ein Glas Wasser und setzte sich dann zu Kira und Angelo, die auseinander fuhren und Jimmy anlächelten. „Ihr seht ja merkwürdig aus. Ist das euer neues Ausgeh-Outfit?“  Angelo lachte freudestrahlend und schlug seinem Bruder auf die Schulter „Ja, wir wollten back to the roots und dachten uns wir gehen jetzt immer in der Altkleidersammlung shoppen.“ Er und Kira prusteten los, nur Jimmy verstand kein Wort; verständnislos sah er seinen Bruder und seine Schwägerin an „Ich versteh kein Wort, was ist los?“ 

Kira setzte sich auf Angelos Schoß „Du kennst uns doch. Wir haben uns gestritten und dann wieder versöhnt. Zwischendrin waren noch ein paar Missverständnisse, aber ansonsten war nichts los.“ Jimmy kratzte sich verlegen am Kopf und wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als es plötzlich laut knirschte und schließlich krachte und Angelo und Kira auf dem Boden inmitten der Trümmer des Stuhls lagen. Der Stuhl war der enormen Belastung nicht gewachsen. 

Die Beiden waren total perplex, aber Jimmy begann sich schlapp zu lachen „Das versteh ich dann allerdings wieder. Autsch....“ Er fasste sich an seinen Kopf „... mein Schädel platzt gleich... Oh Gott....“ Nun war es an Angelo und Kira zu lachen. In diesem Moment kam Patricia mit Sorgenfalten auf der Stirn angelaufen „Ist irgendetwas passiert? Es war so laut.“ Dann sah sie ihren Bruder und ihre Schwägerin auf dem Boden liegen. Sie zählte eins und eins zusammen und entspannte sich sichtlich. „Ach, da hat sich wohl jemand vertragen“ sprach sie beglückt zu den Beiden „aber musstet ihr dafür meinen Stuhl zertrümmern?“ Sie half Kira und Angelo auf, dann räumten sie gemeinsam die Trümmer weg. „Oh Trisha, das tut mir echt leid. Wir ersetzen dir den Stuhl natürlich.“ - „Ach Unsinn. Ich bin einfach froh, dass ihr euch wieder zusammengerauft habt.“ - „Ja, wir sind darüber auch sehr froh.“ Sie nahmen sich gegenseitig in den Arm. „Aber ich fürchte wir können Paddy nicht so lange mit unseren Kindern alleine lassen, wir müssen wohl leider los.“

„Kein Problem. Aber wartet, ich fahr euch gleich. Dann müsst ihr kein Taxi nehmen.“ Als Jimmy das Wort Taxi hörte, schoss sein, den er zwischenzeitlich zum Dösen auf die Tischplatte gelegt hatte, in die Höhe und sah Patricia mit großen Augen an „Nein, ich will nicht schon wieder mit dem Taxi fahren.“ - „Aber Jimmy,“ lachte sie „wer redet denn von dir?“ - „Achso, ich dachte schon.“ Er legte den Kopf wieder auf die Tischplatte und schnarchte leise vor sich hin. 

„Na dann kommt“ wandte sie sich wieder den anderen Beiden zu „ich fahr euch schnell rum.“

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Kommentare: 3
  • #1

    Die Micha (Samstag, 09 Oktober 2010 19:50)

    Oh man Geschwisterliebe! :-)
    Nee, nee, nee!

  • #2

    strangersworld (Dienstag, 12 Oktober 2010 22:22)

    So ist das, Streit gibt es in den besten Familien :-D

  • #3

    mandy (Sonntag, 22 Januar 2012 23:12)

    Echt witzig!!! Erstaunlich und witzig zugleich finde ich dass angelo in denis klamotten gepasst hat!!!hahahha